Gesang und Sprache sind aufs Engste miteinander verwoben. Glaubwürdig singen lehren kann nur, wer die Bedingungen der Sprache nicht außer acht lässt. Wer seine Gesangschüler umfassend wahrnehmen will, muss auf deren oft durch Jahrzehnte hindurch gefestigte Sprach- und Sprechprägung achten. Denn ihre Stimme stand im Lauf ihres Lebens weit mehr der Sprache als dem Gesang zur Verfügung. Wie ein Schüler sich nun sprachlich äußert und wie er mit seiner Stimme umgeht, wird nicht nur durch seine Gene, seine persönliche Lebensgeschichte, seine physische und psychische Konstitution und seine emotionale Verfassung bestimmt. Nein, sein Sprach- und Sprechverhalten unterliegt den Bedingungen konkreter Nationalsprachen und Dialekte, und diese nehmen Einfluss auf die Art und Weise, wie er singt.
Um die Stimme des Schülers richtig kennen zu lernen und für sie eine natürliche Brücke vom Sprechen zum Singen zu bauen, liegt nichts näher, als ihn in der Sprache singen zu lassen, die er sein Leben lang gesprochen hat. Voraussetzung hierfür ist das Vorhandensein muttersprachlichen Repertoires, das sich aus pädagogischer, künstlerischer und inhaltlicher Sicht für den Schüler eignet. Für den klassischen Gesangsunterricht steht hier eine Fülle erstklassiger Gesangsliteratur zur Verfügung, da z.B. das Lied des 19. Jahrhunderts gerade in der deutschen Sprache seine große Blüte erlebt hatte.
Hingegen stellt sich die Suche nach muttersprachlichem Repertoire für den Bereich Jazz und Popularmusik im deutschsprachigen Raum als Problem dar: Einerseits findet man nur ganz wenige unterrichtstaugliche deutsche Kompositionen, die stilistisch in der Sparte Jazz und gehobene Popularmusik anzusiedeln wären. Andererseits erfreut sich modernes deutsches Liedgut keiner großen Akzeptanz, da die Hörgewohnheiten in dieser Stilistik so auf das Englische eingefahren sind, dass deutsche Liedtexte befremden können, ja vielen sogar peinlich sind.
In der gegenwärtigen Kulturlandschaft hat die deutsche Sprache fast nur im Schlager und in der volkstümlichen Musik eine wirkliche Lobby. Eine Kulturszene großen Stils, in der sich Jazz und gehobene Popularmusik gerne und gut mit der deutschen Sprache verbinden, scheint nicht wirklich vorhanden zu sein. Und hier liegt das eigentliche Dilemma für Gesanglehrer, die deutschsprachige Schüler in moderner Stilistik ausbilden wollen. > weiter
- Lieder am Sterbebett einer Kulturepoche
- Die Worte wiederfinden
- Die Kultur der schönen Töne
II. Anthropologische und künstlerische Aspekte
- Vorgeburtliche und frühkindliche Sprachprägung
- In der Fremdsprache singen
- Identität und künstlerischer Ausdruck
- Muttersprachliche Identität beim Singen
III. Sprachwissenschaftliche Aspekte
- Die sprachliche Form des Inhalts
- Der kleine Unterschied
- Wie der Jazz zur englischen Sprache kam
IV. Wege aus der Krise: Drei Schritte für den Gesangunterricht
- Wertschätzung
- Bewusstmachung
- Übung
* THEORETISCHE ARBEIT ZUM DIPLOM, Autor: Cornelius Beck, Studiengang: Popularmusik / Gesang, Anfertigungsjahr: 2001, Mentor und 1. Gutachter: Dr. Michael Büttner, 2. Gutachter: Kara Johnstad, HOCHSCHULE FÜR MUSIK „HANNS EISLER“ BERLIN
** Um den Sprachfluss nicht zu stören, wurde in dieser Arbeit das grammatisch männliche Geschlecht verwendet, um beide Geschlechter in gleicher Weise zu bezeichnen.